Existenzielle Depression: Wenn das Leben keinen Sinn mehr hat

Menschen mit hohen intellektuellen Fähigkeiten können an einer ganz besonderen Form der Depression leiden. Diese zeigt sich, wenn sie das Gefühl haben, dass das Leben keinen Sinn hat, dass es ungerecht und begrenzt ist, durch Einsamkeit gekennzeichnet ist und keine Freiheit gewährt.
Existenzielle Depression: Wenn das Leben keinen Sinn mehr hat
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 18. Juli 2022

Die existenzielle Depression ist eine wenig bekannte, aber immer wiederkehrende Form der psychischen Erkrankung. Zu ihren Merkmalen gehört zum Beispiel das Gefühl, Erwartungen nicht zu erfüllen, dass das Leben sinnlos oder die Welt unfair ist, ein Szenario, das von Ungerechtigkeit und unendlicher Ungleichheit geplagt ist.

Diese Bezeichnung mag vom klinischen Standpunkt aus seltsam oder sogar riskant erscheinen. Sie ist nicht im DSM-V (Diagnostisches und statistisches Handbuch für mentale Störungen) zu finden und vielleicht kennst du auch niemanden mit dieser Diagnose. Es handelt sich allerdings um einen recht häufigen psychischen Zustand, an dem mehr Menschen leiden, als wir denken würden.

Die existenzielle Depression geschichtlich betrachtet

Im Jahre 2012 veröffentlichte der Arzt Robert Seubert einen Forschungsartikel in der Zeitschrift Journal of the European Psychiatric Association, um darauf hinzuweisen, dass ein Teil unserer Gesellschaft nicht auf gewöhnliche Behandlungen der Depression anspricht und dies auf den Persönlichkeitstyp oder auch die hohen intellektuellen Fähigkeiten zurückzuführen sein könnte.

Es gibt Menschen, die sich in anderen psychischen Universen bewegen, in denen sie sich tiefere Fragen stellen und eine Art von Leiden empfinden, die nicht alltäglich ist. Das Gefühl der Angst vor der Zukunft der Welt oder die Traurigkeit darüber, den wahren Sinn des Lebens nicht zu finden, können eine ganz besondere Art von Depression verursachen.

Die existenzielle Depression
Die existenzielle Depression tritt bei Personen mit großen intellektuellen Fähigkeiten auf.

Die existenzielle Depression: Definition, Symptome und Ursachen

Diese Art von Depression erinnert uns an Autoren wie Søren Kierkegaard oder Friedrich Nietzsche. Ihre philosophischen Abhandlungen sprechen über Freiheit und individuelle Verantwortung, über die Einsamkeit des Menschen und das klassische Konzept der existenziellen Angst.

Dieses Konzept bezieht sich auf die Angst vor der Zukunft, vor den Auswirkungen von Entscheidungen, Schwindelgefühlen, die aus Furcht entstehen, nicht zu erreichen, was man sich erwartet. Doch was hat dies mit der  existenziellen Depression zu tun?

Sehr viel. Irvin David Yalom, Professor für Psychiatrie an der Universität Stanford und Psychotherapeut, hat sich besonders intensiv mit diesem psychologischen Zustand beschäftigt. Eine seiner herausragenden Arbeiten trägt den Titel “Existenzielle Psychotherapie”.

Darin spricht der Wissenschaftler über die wichtigsten Eigenschaften von Menschen mit dieser Art von Depression. Wie du im Laufe unseres Artikels noch sehen wirst, besteht eine große Ähnlichkeit mit den repräsentativsten Figuren des philosophischen Existentialismus.

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Die existenzielle Depression und ihre Symptome

Jede Depression ist mehrdimensional und komplex. Betroffene Personen erleben diese Krankheit ganz unterschiedlich, wobei häufig auch andere Störungen gleichzeitig auftreten, zum Beispiel Angststörungen. Die existenzielle Depression führt allerdings zu spezifischen Symptomen, wie zum Beispiel:

  • Existenzleere: Betroffene Menschen sehen in ihrer Existenz keinen Sinn. Sie fühlen sich leer, alles ist unwichtig und nichts kann ihren Geist bereichern oder authentische Gefühle auslösen.
  • Sie haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Deshalb fühlen sie sich von dieser Welt entfremdet und einsam.
  • Sie können sich selbst nicht realisieren. Betroffene empfinden die Gesellschaft als begrenzt und sehen keine Möglichkeit, kreatives, berufliches, menschliches oder soziales Wachstum zu fördern.
  • Betroffene Menschen leiden an sozialem Unrecht, Ungleichheit und fehlender Freiheit.
  • Sie denken häufig an den Tod. Personen mit existenzieller Depression machen sich Gedanken über die Vergänglichkeit des Menschen und haben auch Selbstmordgedanken.
  • Physische Beschwerden, wie Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Hypersomnie oder Essstörungen sind ebenfalls charakteristisch.

Diese Art der Depression tritt bei Menschen mit hoher Intelligenz vermehrt auf

Die existenzielle Depression wird im Rahmen einer Theorie betrachtet, die von dem Psychiater Kazimierz Dabrowski (1902-1980) entwickelt wurde. Dieser Ansatz ist als “positive Desintegration” bekannt und ist wie folgt zu erklären:

  • Es gibt 5 unterschiedliche Entwicklungsetappen des Menschen.
  • Doch rund 70 % der Bevölkerung kommen nicht über die ersten drei Phasen hinaus. In diesen Phasen gewöhnen sich Menschen an die gesellschaftlichen Richtlinien und finden darin schließlich ihren Platz, indem sie sich anpassen.
  • 30 % der Bevölkerung erreichen jedoch den Höhepunkt der persönlichen Entwicklung, was jedoch nicht mehr Weisheit oder Wohlbefinden bedeutet, sondern zu einer existenziellen Krise führt. Sie fühlen sich nicht in die Erwartungen der Gesellschaft integriert.
  • Der Arzt Dabrowski bezeichnete diesen Zustand als positive Desintegration. Das bedeutet, dass sich Menschen, die diese Entwicklungsstufe erreichen, dazu gezwungen fühlen, sich selbst neu zu definieren, indem sie sich zuerst zerlegen und dann wieder neu aufbauen.
  • Sehr häufig durchlaufen sie allerdings eine Phase mit tiefgründigen Zweifeln und der Angst, den Sinn des Lebens nicht zu finden.
  • Oft leiden Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten an existenzieller Angst.
Frau hat existenzielle Angst.
Menschen mit existenzieller Depression erkennen im Leben häufig keinen Sinn.

Therapeutische Strategien

Kann die existenzielle Depression behandelt werden? Die Antwort ist ja, wie auch andere Störungen des Gemütszustands kann auch diese Art der Depression therapiert werden.

Im Allgemeinen ist es wichtig, eine individuelle therapeutische Strategie zu entwickeln, die die spezifischen Bedürfnisse jeder Einzelperson berücksichtigt. Zusätzlich zur psychologischen Therapie kommen in diesem Zusammenhang auch pharmakologische Behandlungen (Antidepressiva) zum Einsatz. Doch wie kann man hochintelligenten Menschen mit existenzieller Depression helfen?

  • Die kognitive Verhaltenstherapie kann in diesem Fall erfolgreich zum Einsatz kommen. Sie ermöglicht es Betroffenen, ihre Gedanken auf die positiven Seiten des Lebens zu konzentrieren und einen Sinn in ihrem Dasein zu finden. Zusätzlich muss versucht werden, Ziele zu finden, die es den betroffenen Personen ermöglichen, optimistisch in die Zukunft zu blicken und neue Illusionen zu finden.
  • Das emotionale Management hilft Betroffenen, ihre gegensätzlichen und sehr komplizierten Emotionen zu reduzieren. Das Ziel ist in diesem Fall die Weiterentwicklung der betroffenen Person, jedoch ohne Angst und Negativität.
  • Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) hilft Betroffenen, zu akzeptieren, dass die Welt nicht so ist, wie wir das gerne hätten. Sie müssen Unsicherheiten, Gegensätzlichkeiten und Ungerechtigkeit akzeptieren, ohne daran so sehr zu leiden, dass sie nichts mehr tun können. Betroffene Personen müssen sich darum bemühen, bestimmte Werte und Ziele zu erreichen.

Existenzielle Depression, eine Störung, die nicht in Handbüchern aufscheint

Abschließend möchten wir noch einmal darauf hinweisen, dass die existenzielle Depression erfolgreich behandelt werden kann, auch wenn sie nicht in Diagnosehandbüchern beschrieben wird. Nur wenige Patienten wissen, was mit ihnen los ist, wenn sie sich um Hilfe bemühen. Eine entsprechende Therapie ist jedoch grundlegend, um ihre negativen Gefühle zu lindern und ihr Wohlbefinden zu fördern.


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  • Dabrowski, K. (1966). The Theory of Positive Disintegration. International Journal of Psychiatry, 2(2), 229-244.
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